Entwicklung und Zusammenarbeit der Disziplinen: Wie beides gelingen kann | Disziplinäre und interdisziplinäre Wissenschaft sind gleichwertig
Ausgabe 28 | 2020
Datum 26.10.2020
Interdisziplinarität wird im wissenschaftspolitischen Diskurs der letzten Jahrzehnte sehr hervorgehoben und ist mit hohen Erwartungen versehen. Interdisziplinärer Forschung wird zugeschrieben, besonders komplexe Probleme anwendungsorientiert bearbeiten zu können und große gesellschaftliche Herausforderungen lösen zu helfen. Dabei gerät gelegentlich aus dem Blick, dass leistungsfähige Disziplinen eine Voraussetzung für gelingende Interdisziplinarität sind.
Disziplinen sind der Ort, an dem fachliche Wissensbestände und Methoden weiterentwickelt, fachliche Standards für Forschung und Lehre definiert und Karrierewege für den wissenschaftlichen Nachwuchs gestaltet werden. „Disziplinäre und interdisziplinäre Wissenschaft stehen in einer engen Wechselbeziehung“, betont Professorin Dorothea Wagner, die Vorsitzende des Wissenschaftsrats. „Sie sind keine Gegensätze, sondern gleichwertige Formen wissenschaftlichen Arbeitens innerhalb eines breiten Aufgabenspektrums.“ Alle diese Formen können erkenntnisgeleitet oder anwendungsorientiert sein, an alle richten sich hohe Qualitätsanforderungen.
Mit dem Positionspapier zur „Wissenschaft im Spannungsfeld von Disziplinarität und Interdisziplinarität“ will der Wissenschaftsrat ein sachgerechtes Verhältnis von disziplinärer, multi- und interdisziplinärer Wissenschaft in Lehre und Forschung fördern. Welcher Zugang im Einzelfall besser geeignet ist, hängt von der jeweiligen Forschungsfrage oder dem akademischen Bildungsziel ab. Um Transparenz herzustellen, sollte klarer unterschieden werden zwischen einer interdisziplinären Arbeitsweise, die sich durch die Integration fachlicher Methoden und eine Synthese von Erkenntnissen auszeichnet, und multidisziplinären Kooperationen, die bei der Bearbeitung eines gemeinsamen Themengebiets arbeitsteilig verfahren.
In Lehre und Forschung stellt die interdisziplinäre Praxis besondere Anforderungen an alle Beteiligten. Für interdisziplinäre Studiengänge, die in der Regel erst in der Masterphase stattfinden sollten, definiert der Wissenschaftsrat Qualitätsstandards und gibt konkrete Empfehlungen zur Umsetzung. „In der interdisziplinären Lehre ist eine intensive Abstimmung der Lehrenden ganz wichtig“, betont Wagner. „Es darf nicht in erster Linie den Studierenden abverlangt werden, interdisziplinäre Bezüge herzustellen.“ Interdisziplinäre Forschung birgt Chancen, steht aber auch vor besonderen Herausforderungen vor allem dann, wenn unterschiedliche Fachkulturen zusammenarbeiten und wenn ihre Funktionen asymmetrisch sind. Das Positionspapier gibt Hinweise zum Umgang mit solchen Konstellationen wie auch zur Bewertung und Begutachtung interdisziplinärer Forschung. Es befasst sich außerdem mit der Frage, wie Risiken einer interdisziplinären Qualifizierung für Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler minimiert werden können.
Der Wissenschaftsrat will bei allen beteiligten Akteuren – in Wissenschaft und Hochschulen, in der Wissenschaftspolitik, in Fördereinrichtungen und wissenschaftlichen Fachgesellschaften – das Bewusstsein dafür schärfen, dass strukturrelevante Entscheidungen an Hochschulen immer auch Auswirkungen auf die Fächer und auf interdisziplinäre Aktivitäten haben. „Es ist ein zweifacher Imperativ, den Bedarfslagen der Fächer gerecht zu werden und zugleich Freiräume für ihre Interaktion in Forschung und Lehre zu schaffen“, so die Vorsitzende des Wissenschaftsrats. „Das Spannungsverhältnis von Stabilität und Beweglichkeit immer neu auszutarieren, ist eine gemeinsame Gestaltungsaufgabe.“