Hochschulbildung im 21. Jahrhundert | WR empfiehlt neue Rahmenbedingungen für Studium und Lehre
Ausgabe 10 | 2022
Datum 02.05.2022
In seinen „Empfehlungen für eine zukunftsfähige Ausgestaltung von Studium und Lehre“ entwirft der Wissenschaftsrat ein Bild des Hochschulstudiums als ganzheitlichen Bildungsprozess, in dem Studierende als gestaltende Akteure mitwirken. Denn Hochschulabsolventinnen und ‑absolventen werden in den kommenden Jahrzehnten wesentlich zur Bewältigung der gesellschaftlichen und politischen, technologischen und ökologischen Umbrüche beitragen.
Dafür müssen sie mit dynamischen, komplexen Problemen umgehen können, stetig dazulernen, kooperieren, vernetzt denken und auch ungewohnte Wege gehen. Aus Sicht des wissenschaftspolitischen Beratungsgremiums von Bund und Ländern ist dazu ein grundlegendes Umdenken aller Akteure erforderlich. „Wir müssen an vielen Stellen ansetzen: bei den Lehrformaten und der Studienorganisation, bei den Prozessen an Hochschulen sowie den Steuerungsinstrumenten im Hochschulsystem,“ so Professorin Dorothea Wagner, Vorsitzende des Wissenschaftsrats. „Es braucht einen deutlichen Qualitätssprung, damit Studium und Lehre auf die Herausforderungen von morgen vorbereiten können. Zum Glück gibt es vielerorts bereits gelungene Ansätze.“
Zur Verbesserung der Rahmenbedingungen für erfolgreiche Bildungsprozesse sieht der Wissenschaftsrat verschiedene Ansatzpunkte: Der Wissenserwerb in Lehrveranstaltungen sollte stärker als bislang durch Reflexion, Anwendung und Interaktion geprägt sein. Die Anzahl von obligatorischen Lehrveranstaltungen und Prüfungen sollte zugunsten des angeleiteten Selbststudiums reduziert werden. Studierenden sollte mehr Zeit für selbstbestimmtes Lernen zur Verfügung stehen, sei es einzeln oder in Gruppen. Um die Eigenständigkeit von Studierenden zu fördern, sollten Wahl- und Entscheidungsmöglichkeiten im Studienverlauf erweitert werden. Zur Begleitung des studentischen Lernens empfiehlt der Wissenschaftsrat eine neue Form des akademischen Mentorats: Regelmäßige Reflexions- und Feedbackgespräche zwischen Lehrenden und Studierenden, die einzeln oder in Kleingruppen stattfinden können, sollen die diskursive Auseinandersetzung mit fachlichen Inhalten fördern, zur akademischen Sozialisation und zur Persönlichkeitsbildung beitragen und Studierende dabei unterstützen, den individuell besten Weg durch das Studium zu finden. Prüfungen haben in diesem Kontext eine erweiterte Funktion: Damit ließe sich ermitteln, ob Studierende ihre Kenntnisse nicht nur reproduzieren, sondern auch anwenden und Probleme selbstständig bearbeiten können. „Die Organisation der Hochschulbildung als lernendes System bedeutet auch, neue Wege zu erkunden und eine produktive Fehlerkultur zu pflegen“, betont Wagner. Um- und Irrwege von Studierenden sollten nicht als Scheitern abgewertet werden. Lehrende müssen neue Lehrmethoden und -medien auch mit dem Risiko der Revision erproben können. Zur produktiven Fehlerkultur kann es auch gehören, unwirksame Maßnahmen wieder einzustellen und Zeit und Ressourcen für neue Aufgaben zu gewinnen.“
Hochschulen und Fächer mit guten Betreuungsrelationen sollten modellhaft Konzepte erproben, wie kleinere Gruppen für eine bessere Interaktion genutzt werden können, und aufzeigen, welcher qualitative Mehrwert damit erzielt werden kann. Zur Umsetzung einer solchen Lehr- und Lernkultur wären in stark nachgefragten Studiengängen bessere Betreuungsrelationen und damit zusätzliche Personalressourcen in der Hochschullehre erforderlich. Der Wissenschaftsrat verbindet seine Empfehlungen zur Weiterentwicklung von Curricula, Lehr- und Prüfungsformaten daher mit Vorschlägen an die Länder, die dafür notwendigen finanziellen und rechtlichen Rahmenbedingungen zu schaffen. Vor allem Curricularnormwerte und Lehrverpflichtungsverordnungen sollten daraufhin überprüft werden, inwieweit sie den Erfordernissen der jeweiligen Fächer und den Anforderungen an ein zeitgemäßes Studium entsprechen.
Der Wissenschaftsrat erkennt an, dass die empfohlenen Maßnahmen zur Qualitätsverbesserung von Studium und Lehre alle beteiligten Akteure vor große, auch finanzielle Herausforderungen stellen und nur schrittweise umgesetzt werden können. „Aber die Zukunft wartet nicht auf uns“, mahnt Dorothea Wagner. „Der Zeitpunkt, in der Hochschulbildung die richtigen Entwicklungen für das 21. Jahrhundert anzustoßen, ist jetzt.“